Nürtingen aktuell
Nürtingen aktuell
Neues Buch der Frauengeschichtswerkstatt
Erstelldatum25.11.2021
Das Wirtschaftswunder aus weiblicher Perspektive
Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg ging auch in Nürtingen nur mit viel Improvisation, weiblicher Tatkraft und Entbehrungen voran. Wie die Frauen das Wirtschaftswunder erlebten, hat die Frauengeschichtswerkstatt der Nürtinger Volkshochschule in ihrem fünften Band anhand von persönlichen Erzählungen und Recherchen in den Archiven der Stadt und der Nürtinger Zeitung festgehalten.
Die Leiterin der Frauengeschichtswerkstatt Beate Reinhardt konnte Zeitzeuginnen gewinnen, welche überaus lebendig vom wirtschaftlichen Aufschwung in den 50er-Jahren berichten. So schildert Hannelie Hoffmann aus der Drogerie Horch, wie dekorative Kosmetik erstmals in Nürtingen erhältlich war. Und Liane Maulbetsch, die in einer Lohnstrickerei beschäftigt war, berichtet über den Alltag in der damaligen Arbeitswelt und dass die ersten Socken für Bundeswehrsoldaten auf Nürtinger Maschinen hergestellt wurden.
Wie gelang den Frauen der Spagat zwischen der Kindererziehung, Haushaltsführung und einer Erwerbstätigkeit? Häufig befanden sich die Frauen lange Zeit im Ungewissen darüber, ob ihre Väter, Ehemänner oder Söhne noch am Leben sind oder aus Kriegsgefangenschaft zurückkehren würden. Daher waren viele Frauen auf vielen Gebieten auf sich alleine gestellt.
Die Zeiten großer Wohnungsnot und Lebensmittelrationierung machten dem sogenannten Wirtschaftswunder der 50er-Jahre Platz. Nürtingen blühte auf und selbst ein Filmstar wie Lil Dagover ließ es sich nicht nehmen, bei einer Leistungs- und Modenschau vorbeizuschauen. Als 1956 das erste Selbstbedienungswarenhaus von Hans-Gerold Hauber am Lammbrunnen eröffnete, war der Andrang so enorm, dass Polizisten aus Stuttgart angefordert werden mussten, um den Verkehr in geordnete Bahnen zu lenken.
Auch dem 1949 gegründeten Nürtinger Frauenbund ist ein Kapitel gewidmet: Der lose Zusammenschluss von Frauen setzte für damalige Verhältnisse progressiven Ideen um. Dazu zählten Sitzgelegenheiten im Galgenbergpark, der Bau eines Kindergartens und von Spielplätzen oder eine Hauspflegestation, die aushilft, wenn in einer Familie die Mütter ausfielen. Auch Kochkurse für Mädchen wurden angeboten. Im Jahr 1957 meldeten sich dafür vier junge Männer an und die Frauen entschieden einstimmig, diesen „mutigen Jungen einen Platz am Herd einzuräumen“. In den frühen 60er-Jahren löste er sich offensichtlich aus Mangel an Nachwuchs sang- und klanglos auf.
Dieses Schicksal bleibt der Nürtinger Frauengeschichtswerkstatt hoffentlich erspart, denn seit 20 Jahren arbeiten deren Autorinnen wichtige Aspekte der Geschichte auf, damit sich nachfolgende Generationen ein Bild von den Verhältnissen vergangener Tage machen können und dadurch vielleicht auch den einen oder anderen Denkanstoß erhalten.
Die Frauengeschichtswerkstatt wurde 2001 von Anne Schaude gegründet, als sie für eine Frauenstadtführung recherchierte. Zwei Jahre später erschien der erste Band.
Im Jahre 2014 erhielt die Frauengeschichtswerkstatt eine Anerkennung beim international ausgeschriebenen Wettbewerb „Lebendige Erinnerungsstadt“ der Stiftung Lebendige Stadt in Essen sowie den 1. Preis beim Ehrenamtspreis der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen und der Nürtinger Zeitung.
Bislang erschienen sind die Bände:
„Wir hatten alle Visionen. Nürtinger Frauen im Fürsorgewesen“ (2003)
„Ohne Kunst hätte ich nicht leben können. Nürtinger Künstlerinnen, Künstlermütter, Künstlerfrauen“ (2005)
„Tagein – tagaus. Mädchenbildung und Frauenarbeit in Nürtingen“ (2007)
„Der Krieg zwang uns in eine neue Heimat – Über Frauen, die nach Flucht und Vertreibung in Nürtingen eine neue Heimat gefunden haben“ (2013)
Der fünfte Band „Von Nürtinger Frauen und Mädchen in der Nachkriegszeit und im Wirtschaftswunder“ ist erhältlich bei der Geschäftsstelle der Nürtinger Volkshochschule in der Frickenhäuser Straße 3, im Stadtmuseum, im Stadtbüro der Nürtinger Zeitung Am Obertor und in der Parfümerie Horch.
Wer selbst bei der Frauengeschichtswerkstatt mitarbeiten möchte, kann sich bei der Volkshochschule telefonisch unter 07022 / 75-330 oder per Mail unter kontakt@vhs-nuertingen.de melden.