Nürtingen aktuell
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Ansprache des Oberbürgermeisters zur Corona-Lage am 31. Januar
Erstelldatum03.02.2022
Ansprache des Oberbürgermeisters zur Corona-Lage am 31. Januar
Liebe Nürtingerinnen und Nürtinger, liebe Versammelte,
herzlichen Dank für die Einladung zur Versammlung „Nürtingen steht zusammen – für Demokratie und Solidarität“. Oft ist die Marktstraße vor dem Rathaus ja verwaist und ich sitze bis in die Nacht einsam in meinem Büro, das ist heute nicht der Fall – schön, dass ich kurz zu Ihnen ALLEN sprechen darf.
Mit allen meine ich auch wirklich ALLE: Ich bin der Oberbürgermeister von allen, unabhängig von der Herkunft und unabhängig vom Impfstatus.
Ich habe für Nürtingen vor über einem Jahr festgelegt, dass hier die liberalst mögliche Auslegung der Corona-Vorschriften gilt. Denn auch ein Lockdown hat gesundheitliche Folgen, so werden z.B. Operationen verschoben, man beobachtet vermehrt psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen, Menschen vereinsamen. Das bewegt mich.
Gerade deshalb habe ich mich auch für das Impfen ausgesprochen. Hätten wir nicht den Impfstoff gehabt, wären unzählige Menschen mehr gestorben und an einem weiteren Lockdown hätte auch in diesem Winter nichts vorbeigeführt. Denken Sie mal an die Einschränkungen letzten Winter ohne Impfung: Schulen, Kitas, Universitäten und Geschäfte waren monatelang geschlossen, Silvester verbrachte man quasi alleine.
Das Impfen – insbesondere in der Gruppe Ü60 – rettet Leben, schützt vor einem Aufenthalt im Krankenhaus aufgrund eines schweren Krankheitsverlaufs, und das Impfen hat uns auch vor einem weiteren harten Lockdown bewahrt. Über 50 % der Intensivbetten waren im November mit Covid19-Patienten belegt – nicht etwa mit Fällen von Impfnebenwirkungen – die Mehrzahl davon war nicht geimpft! Die Impfung hat uns vor dem Kollaps gerettet.
Jetzt ist zum Glück Delta passé. Dafür ist Omikron mit deutlich milderen Krankheitsverläufen aber auch als ansteckendere Variante angekommen – derzeit sind acht Personen auf den Intensivstationen mit Covid19 im gesamten Landkreis Esslingen, bei Delta waren es weit über 30. Allerdings ist die Tendenz wieder steigend, wir waren schon bei drei – Entwarnung kann also leider noch nicht gegeben werden.
Auch bei Omikron schützt die Impfung vor schweren Verläufen, daher bleibt das Impfen weiter sehr sinnvoll.
Ein Wort zur Impflicht - jede staatliche Maßnahme muss nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich, verhältnismäßig und auch durchsetzbar sein. Da gibt es noch viele Fragezeichen. Ich verstehe, dass hier kontrovers diskutiert wird – aber bitte mit Respekt und Argumenten. Ich persönlich setze auf Aufklärung und ein breites, tägliches Impfangebot wie wir es in Nürtingen haben. Dies finde ich aktuell den besseren Weg, gerade um die Gräben nicht zu vertiefen.
Aber auch hier bleibt die Entwicklung abzuwarten – keiner hat eine Glaskugel und das Erfordernis einer allgemeinen Impfpflicht kann sich aus meiner Sicht mit einer neuen Variante schlagartig ändern.
Eines ist mir aber wichtig: Einschränkungen dürfen nur solange dauern, wie sie erforderlich sind, in dem Fall für den Gesundheitsschutz – das muss auch für NICHT-Geimpfte gelten. Einschränkungen der Grundrechte dürfen niemals Bestrafaktionen für ein rechtlich zulässiges Handeln von Bürgerinnen und Bürgern sein, welches man sich als Staat vielleicht anders wünscht. Eines ist aber auch klar: Je höher die Impfquote, umso schneller können Einschränkungen wegfallen – das zeigt das Beispiel Dänemark.
Grundlage unserer Demokratie ist, dass jeder frei seine Meinung äußern kann. Wir sollten uns dabei gegenseitig zuhören. Für Impflicht oder gegen Impflicht, für die Aufhebung aller Beschränkungen oder für eine Verschärfung. Ich selbst habe auch mit der einen oder anderen Vorschrift und dem zeitweisen Regelwirrwarr gehadert. So habe ich nie verstanden, warum z.B. getestete Ungeimpfte mit FFP2-Maske der Zugang zu unseren kleinen Kleiderläden verwehrt wurde und sich dann alle dicht gedrängt im Supermarkt treffen konnten.
Dennoch sind wir alles in allem – auch im Vergleich zu anderen Ländern – bisher gut durch die Pandemie gekommen. Wir haben in Deutschland auch großes Glück, dass wir die weltweit höchste Zahl an Intensivbetten haben. England und Italien haben, auf die Einwohner heruntergerechnet, weniger als die Hälfte. Bei aller Kritik dürfen wir nicht vergessen, dass die Pandemie auch für die Regierenden Neuland war. Schmähkritik und Hetze – gerade im Schutze der Anonymität des Internets - haben diese, die Verantwortung übernehmen, nicht verdient.
Insbesondere sind Vergleiche mit dem Dritten Reich und einer Corona-Diktatur völlig deplatziert. Ich dachte, ich höre nicht recht, als auf einer Demo in Karlsruhe der Kindergeburtstag unter Corona-Einschränkungen mit der Situation der Jüdin Anne Frank verglichen wurde. Der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus letzte Woche sollte hier wirklich allen die Augen geöffnet haben. Kritik gerne, aber mit Augenmaß und Vernunft.
Zur Meinungsfreiheit gehört eng verbunden die Versammlungsfreiheit. Jeder darf sich in Deutschland ohne Waffen unter freiem Himmel versammeln und seine Meinung kundtun – Artikel 8 ist eines der zentralsten und wichtigsten Grundrechte für die Demokratie. Um zu gewähren, dass Jeder – auch Minderheiten – seine Meinung kundtun darf, muss der Organisator die Versammlung 48 Stunden vorher bei der Ortspolizeibehörde anmelden – so will es das Gesetz. Dann schützen ggf. Ordnungskräfte die Kundgebungen. Wenn der Organisator das nicht tut, ist es eine Straftat. Daher mein Appell an die Montagsspaziergänger: Bitte meldet die Versammlungen an, zeigt Verantwortung und helft so mit, dass alles reibungsfrei, geordnet und friedlich abläuft. So gab es etwa am Samstag eine angemeldete Demo in Schlaitdorf gegen eine Impfflicht.
Zum Ende habe ich einen Appell: Lasst uns doch – bei allen unterschiedlichen Positionen – gemeinsam heute Solidarität zeigen und schauen, was uns verbindet: Das ist der zweite Punkt der Kundgebung. Solidarität gerade auch mit den von der Pandemie besonders Betroffenen:
Dazu zählen für mich die auch an Long Covid erkrankten Menschen, und diejenigen, die einen geliebten Menschen an Covid19 verloren haben, aber auch jene die vereinsamt sind oder die wegen der Einschränkungen nicht von einer geliebten Person Abschied nehmen konnten.
Dazu zählen für mich auch Kinder und Jugendliche, die die letzten zwei Jahre nicht unbeschwert ihre Kindheit und Jugend genießen konnten und teilweise mit Depressionen zu kämpfen haben.
Dazu zählen auch die Eltern, die vieles auffangen mussten, wie etwa die Corona-bedingten Schließungen der Kitas, oder die verkürzten Betreuungszeiten.
Dazu gehören auch das Personal in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Arztpraxen und die Blaulichtorganisationen. Ja, auch die hier anwesenden Polizisten wären heute Abend sicherlich lieber bei ihren Familien. Gerade an einem schwarzen Tag – an dem zwei junge Polizeikollegen in Rheinland-Pfalz ermordet wurden. Ihnen gelten auch unsere Gedanken.
Und dazu zählen nicht zuletzt unsere Einzelhändler, Gastronomen und Dienstleister, die teilweise mit großen Umsatzeinbrüchen zurechtkommen müssen – vielen steht das Wasser bis zum Hals und sie wissen nicht weiter.
Vielleicht wäre es ja eine Idee – auch eine Anregung für die Montagsspaziergänger – dass man sich das nächste Mal nicht zum Spazieren, sondern zum Einkaufen verabredet – also quasi zum Spazieren in den Geschäften. Dies ist für alle mit 3G möglich und wäre ein starkes Zeichen der Solidarität mit unseren Einzelhändlern und damit mit unserer Stadt.
Herzlichen Dank!